Zur sozialen Lage der Kunstschaffenden in der Schweiz

Peter A. Schmid [Aus: Rote Revue 2/2001, S. 7-11]

Können Kunstschaffende arbeitslos werden? Die Antwort auf diese Frage hängt von der Definition des Begriffs Arbeit und von der Kunstsparte ab. Interpretierende KünstlerInnen können durchaus im allgemein gebräuchlichen Sinne arbeitslos werden, so zum Beispiel, wenn ein Orchester aufgelöst wird oder ein Theater schliessen muss, weil sie nicht mehr finanziert werden können. Bei KünstlerInnen, die eigenständige Werke schaffen, ist die Antwort um einiges schwieriger. Als KünstlerInnen können sie nur arbeitslos werden, wenn ihnen der Stoff ausgeht. Was sie aber ohne weiteres werden können und vielfach auch werden, ist erwerbslos. Sie verdienen also mit ihrer Arbeit nicht genügend, um davon auch leben zu können. Damit stehen sie nicht allein da, wie eine neuere Studie über Working poor gezeigt hat [1]. Das spezifische Problem bei Kunstschaffenden liegt nun aber darin, dass ihre Arbeit sozialrechtlich in vielen Fällen nicht anerkannt wird und sie deshalb wie auch die neuen Selbständigerwerbenden keinen Anspruch auf Erwerbslosenunterstützung haben, da sie als freie KünstlerInnen keinen Arbeitgeber haben. Mit der Revision des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung anfangs 1998 hat sich die Situation auch für jene KünstlerInnen verschärft, die zumindest teilweise in Auftragsverhältnissen arbeiten (Theater, Film, Musik etc.). Musste früher eine Person, die Arbeitslosenentschädigung beziehen wollte, in der Rahmenfrist von zwei Jahren mindestens sechs Monate einer beitragspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sein, so gilt heute, dass wer innerhalb von fünf Jahren ein zweites Mal arbeitslos wird, eine Mindestbeitragspflicht von zwölf Monaten ausweisen muss. Da Kurzzeit-Engagements für Kunstschaffende in den letzten Jahren zugenommen haben und immer weniger langfristige Engagements angeboten werden, laufen immer mehr Kunstschaffende Gefahr, diese Mindestbeitragszeit nicht zu erreichen und somit nicht anspruchberechtigt zu sein. 

Die Sache ist bei jenen Kunstsparten noch vertrackter, bei denen auch kurzzeitige Engagements nicht die Regel sind (SchriftstellerInnen, bildende KünstlerInnen, KomponistInnen etc.). Dazu ein konkretes Beispiel aus der Literatur: Eine junge Autorin bezieht Arbeitslosengelder, da sie in einem Anstellungsverhältnis gestanden hat, das mit ihrer Tätigkeit als Autorin nichts zu tun hatte. Nun erhält sie ein Werkjahr von Pro Helvetia und beschliesst, nicht mehr zu stempeln und sich ganz ihrem Beruf - dem Schreiben - zu widmen. Nach zwei Jahren ist das Stipendium aufgebraucht (sie lebt sparsam), und sie geht erneut zur Arbeitlosenkasse. Dort wird ihr mitgeteilt, dass sie leider keinen Anspruch habe, da sie ja in diesen zwei Jahren nicht gearbeitet habe bzw. keiner beitragspflichtigen Beschäftigung nachgekommen sei. Die Schriftstellerin wird also, obwohl sie ein Arbeitsstipendium der Pro Helvetia erhalten hat, direkt zum Fürsorgefall, da ihre künstlerische Arbeit nicht als Erwerbsarbeit anerkannt wird. Doch auch die Fürsorge wird ihren Beruf nicht anerkennen, sondern sie darauf hinweisen, dass sie doch etwas "Richtiges" arbeiten soll. 

Die soziale Situation ist schlecht

Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass die sozialen Rahmenbedingungen für KünstlerInnen, die von ihrer Kunst leben wollen, nicht optimal sind. Dazu ist jedoch anzumerken, dass ohnehin nur ein kleiner Teil der KünstlerInnen in der Schweiz auch wirklich von ihrer künstlerischen Tätigkeit leben können. Zwei kürzlich durchgeführte Erhebungen, die die Grundlagen für eine Arbeitsgruppe der Kulturverbände und des Bundesamtes für Kultur zur Verbesserung der Situation der Kunstschaffenden liefern sollten [2], haben gezeigt, wie schwierig die soziale Situation der Kunstschaffenden in der Schweiz gegenwärtig ist.

Dabei zeigen sich je nach Sparte recht grosse Unterschiede. Ich möchte hier die Situation der AutorInnen als besonders prekäres Beispiel etwas genauer darstellen. Nur gerade 8 Prozent der AutorInnen geben an, dass sie von ihrem Schreiben leben können. Das ist nicht weiter verwunderlich, haben doch selbst "Erfolgsautoren" Auflagen von 5'000 bis 6'000, bei einer Taschenbuchausgabe vielleicht einmal 20'000 Exemplaren. Mit den hinzukommenden Lesungen lässt sich ebenfalls nur ein geringes Einkommen erzielen, sind die Honorare doch nicht gerade fürstlich, und auch die gelegentlichen Preise und Werkjahre sichern keine längerfristige Lebensgrundlage. Von was also leben AutorInnen, die in der Schweiz schreiben? Eine eindeutige Antwort ist nicht möglich: So vielfältig die AutorInnen, so vielfältig ihre persönlichen Lebensentwürfe. Da gibt es die dichtende Bibliothekarin oder den Romanschreiber, der in der Nacht Taxi fährt. Andere sichern sich ihren Lebensunterhalt mit Schreibkursen, Schreibateliers oder als Werbetexterinnen. Eine grosse Gruppe schliesslich ist im Bildungsbereich tätig. 

Sicher ist einzig, dass bei den allermeisten AutorInnen der Anteil des Einkommens, der durch das Schreiben erzielt wird, verschwindend klein ist. Die oben erwähnten Studien haben gezeigt, dass neben den ca. 8 Prozent AutorInnen, die vom Schreiben leben, weitere 10 Prozent doch zumindest 50 bis 90 Prozent ihres Einkommens als Schreibende erzielen. Weitere 20 Prozent erzielen 20 bis 50 Prozent aus ihrer literarischen Tätigkeit. Der grosse Rest von über 60 Prozent schliesslich erzielt weniger als einen Fünftel der Einnahmen aus dem Schreiben. Besonders schwer haben es die LyrikerInnen, aufgrund der geringen Auflagen und der fehlenden Nebenrechtsverwertung liegen ihre aus dem Schreiben erzielten Einkommen besonders tief. 

Während ca. 8 Prozent der SchriftstellerInnen sich von ihrem Schreiben ernähren können, leben etwas über 40 Prozent der bildenden KünstlerInnen, rund 35 Prozent der MusikerInnen und Filmschaffenden, aber nur 23 Prozent der TänzerInnen alleine von ihrer Kunst. Den höchsten Anteil verzeichnen die Theaterschaffenden mit doch immerhin 65 Prozent, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass ein recht grosser Teil der Theaterschaffenden als ArbeitnehmerInnen mit befristeten Arbeitsverträgen arbeitet.

Die Vermutung, dass zumindest die bekannten Kunstschaffenden von ihrer Arbeit gut leben können, ist verfehlt. Zwar ergeben sich auch hier spartenspezifisch grosse Unterschiede. Es kann jedoch festgehalten werden, dass selbst anerkannte KünstlerInnen Zeit ihres Lebens auf öffentliche Zuschüsse angewiesen bleiben, um eine einigermassen gesicherte Existenz führen können. Dabei sind die Ansprüche bescheiden, 2000 bis 3000 Franken monatlich reichten den meisten - und das ein Leben lang. Jedoch nur, wenn keine Familie zu ernähren ist. Tritt dieser Fall ein, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Die Partnerin, der Partner verdient das Notwendige, oder der / die KünstlerIn geht für ein höheres Einkommen einer zusätzlichen oder gar anderen Tätigkeit nach. 

Trotzdem beklagen sich die Kunstschaffenden nur selten. Die meisten akzeptieren das geringe Einkommen als Preis für ihre Freiheit und als Preis dafür, dass sie ihr Leben ihrer Berufung widmen können. Zur Frage steht allerdings, ob sie unter den gegebenen Umständen tatsächlich ihr ganzes Leben ihrer Berufung widmen können. Denn die Annahme, KünstlerInnen, die heute von ihrer künstlerischen Tätigkeit leben, könnten dies auch ein Leben lang fortführen, wäre ein Fehlschluss. Die erwähnte Untersuchung ist nur eine Momentaufnahme, die deutlich macht, dass gegenwärtig in der Schweiz zwischen 4000 und 5000 KünstlerInnen ihr gesamtes Einkommen aus ihrer künstlerische Tätigkeit erzielen. Eine Momentaufnahme hat den Nachteil, dass sie nichts über die biographische Entwicklung einer künstlerischen Karriere aussagt. Im Gegensatz zu anderen Berufen lässt sich bei der Kunst weder von einer kontinuierlichen Berufstätigkeit noch von einer eigentlichen Berufskarriere sprechen. Der erfolgreiche Jungfilmer von heute kann schon in einigen Jahren in Bedrängnis geraten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil das gesamte künstlerische System mehr und mehr auf Jungtalente ausgerichtet ist. Erstlinge erhalten heute eine hohe Aufmerksamkeit bei den KritikerInnen, aber auch bei JurorInnen diverser Preise und Förderinstitutionen. Sind die Kritiken gut, folgen die Preise und Werkjahre, die jungen Kunstschaffenden können von ihrer Tätigkeit leben.

Für einige Jahre kann das durchaus gut gehen, Preise und Werkjahre ermöglichen ein Weiterarbeiten in finanziell gesicherter Situation. Das Geld geht aber irgendwann zu Neige, und die folgenden Werke haben es in der Regel schwerer, sich bei den Kritikerinnen und Kritikern durchzusetzen. Die Preise sind bereits eingeheimst und weitere Werkjahre aufgrund der Karenzfrist oder des Alters nicht möglich. Nun beginnen die Probleme. Aus ökonomischen Gründen bleiben in diesem Fall zwei Optionen: den Gürtel noch enger zu schnallen und zu hoffen, dass es irgendwie geht. Oder sich eine oder auch mehrere Lohnarbeiten zu suchen. Letzteres bedeutet, dass weniger Zeit und Kraft für die künstlerische Tätigkeit aufgewendet werden kann. Viele KünstlerInnen verdienen ihren Lebensunterhalt patchworkartig: hier eine kurzfristige Anstellung, dort ein Artikel, hier ein 10 Prozentpensum oder etwas Sitzungsgeld. Behindert wird damit die konzentrierte Arbeit an einem grösseren und zusammenhängenden Werk. 

Es zeigt sich also, dass nur sehr wenige KünstlerInnen in der Schweiz ein Leben lang von ihrer Kunst allein leben können. Eine etwas grössere Gruppe lebt zumindest einige Zeit davon, der grosse Rest muss neben der künstlerischen Tätigkeit einen grossen Teil der Kraft und Zeit für einen anderen berufsnahen oder -fernen Broterwerb einsetzen. Die wenigsten KünstlerInnen mögen sich darüber beklagen. Stellvertretend meint etwa Hugo Loetscher: "Ich kann davon (vom Schreiben) leben und dabei meine Freiheit bewahren, das ist gut. Noch besser wäre es aber, wenn die Schriftstellerei als eine richtige Arbeit gälte, die ihren Lohn verdient." [3] Letztlich geht es um die Anerkennung der Arbeit der KünstlerInnen. Eine Anerkennung, die kulturpolitische Auswirkungen haben müsste in dem Sinne, dass auf politischer Ebene die sozialen Rahmenbedingungen für die künstlerische Arbeit verbessert werden müssten.

Einige konkrete Anregungen 

Denkbar sind folgende konkrete Ansätze zu einer Verbesserung der Situation der KünstlerInnen: 

  1. Als erstes gilt es, professionelles Kunstschaffen als Beruf anzuerkennen, damit die Grundlagen für eine langfristige Verbesserung der Situation geschaffen werden. Die öffentlichen und privaten Kulturförderer müssen zusammen mit den Kulturverbänden in eine Diskussion eintreten, was professionelles Kunstschaffen ist und welche sozialversicherungsrechtliche Absicherung dieser Beruf braucht. 
  2. In Zusammenhang mit AHV und ALV sollen sich die Förderinstitutionen überlegen, ob sie nicht als Arbeitgeber der KünstlerInnen auftreten können. Werkbeiträge sollten als Einkommenersatz eingestuft werden, damit die KünstlerInnen, die dank dieser Stipendien in ihrem Beruf arbeiten, in das Sozialversicherungssystem eingebunden werden können. Eine andere Möglichkeit ist, dass der Bund als fiktiver Arbeitgeber für professionelle KünstlerInnen auftritt und für deren im Interesse der Allgemeinheit erbrachte Tätigkeit Gutschriften leistet, die sowohl AHV- als auch ALV-wirksam werden. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch eine schweizerische Variante des deutschen Modells einer Künstlersozialkasse, bei der der Bund eine Arbeitgeberfunktion übernimmt und zusammen mit den Kulturförderern zumindest die Hälfte der Beiträge der Versicherung übernimmt.
  3. Viele freie KünstlerInnen haben ein stark zersplittertes Einkommen mit verschiedenen Einkommensquellen und sind keiner 2. Säule angeschlossen. Es sollte geprüft werden, ob nicht die "Stiftung Auffangvorrichtung BVG", die beim Bund angesiedelt ist, für professionelle KünstlerInnen ausgebaut werden kann. Die Auffangvorrichtung könnte durch Abgaben der Arbeitgeber, Beiträge der KünstlerInnen, Gutschriften aus Stiftungsbeiträgen und der Lotteriefonds sowie des Staates gespiesen werden. 
  4. In Hinblick auf die Steuern ist eine Harmonisierung der Besteuerung der Kulturförderbeiträge notwendig. Diese Beiträge sollen in allen Kantonen steuerbefreit werden. 
  5. Durch das Steuergesetz kann auch die Investition in Kultur gefördert werden, wenn etwa das kulturelle Engagement von Privaten in allen Kantonen von den Steuern absetzbar wird. 
  6. Obwohl das Bundesamt für Kultur anerkannt hat, dass die sozialen Rahmenbedingungen für KünstlerInnen nicht optimal sind, und aufgrund eines Postulats von Rosmarie Simmen von 1993 verschiedene Verbesserungen geprüft werden, gibt es doch noch Bundesstellen, die sich dieser Problematik nicht bewusst sind. So hat etwa das Institut für Geistiges Eigentum in seinem Vernehmlassungsentwurf zur Revision des Urheberrechtes den Produzentenartikel vorgeschlagen, der zu einer eindeutigen Verschlechterung der ökonomischen Stellung der KünstlerInnen führen würde. Statt einer solchen Begünstigung der ökonomisch stärkeren Seite müsste im Rahmen der Revision des Urheberrechtes geprüft werden, welche Neuerungen eine Verbesserung der sozialen Situation von KünstlerInnen in der Schweiz bringen. Zu denken ist hier insbesondere an das Urheberfolgerecht beim Verkauf von Kunstwerken, an Bibliothekstantiemen und an den so genannten Goethe-Groschen, der vorsieht, dass ein Teil der Einkünfte von verstorbenen KünstlerInnen, deren Werk urheberrechtlich nicht mehr geschützt ist, zur Unterstützung lebender KünstlerInnen verwendet wird. 
  7. KünstlerInnen, die in soziale Notlagen geraten und keine ALV-Beiträge beziehen können, müssen zumindest für von der öffentlichen Sozialhilfe unterstützt werden. Leider ist dies nicht immer der Fall, viele professionelle KünsterInnen werden, da ihre Tätigkeit nicht als Arbeit anerkennt wird, auch heute noch von der Sozialhilfe an private Hilfsinstitutionen verwiesen. Die Schweizerische Konferenz für öffentliche Sozialhilfe (SKOS) soll allgemeinverbindliche Richtlinien für die Unterstützung von KünstlerInnen ausarbeiten. In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob eine gesamtschweizerische Hilfsinstitution für KünstlerInnen geschaffen werden kann.
  8. Um eine langfristige soziale Besserstellung der freien professionellen KünstlerInnen zu erreichen, sollte geprüft werden, ob das Modell der Zusatzleistungen auf Kunstschaffende ausgeweitet werden kann. Gegenwärtig wird aufgrund der Einsicht, dass bei Familien ein erhöhtes Armutsrisiko besteht, darüber diskutiert, ob nicht Familien mit geringem Einkommen und Kindern in einem gewissen Alter in den Genuss der politisch breit akzeptierten Zusatzleistungen kommen können. Auch KünstlerInnen leisten gesellschaftlich notwendige Arbeit und haben durch diese Arbeit ein höheres Armutsrisiko als andere Berufstätige. In Hinblick auf die Working poor hat selbst das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) weitergehende Modelle für Einkommenszuschüsse an armutsbetroffene Erwerbstätige unter die Lupe genommen. Werden KünstlerInnen als Berufstätige anerkannt, so spricht nichts dagegen, dass auch sie im Rahmen eines solchen Modells Anspruch auf die Sicherung eines garantieren Mindesteinkommens durch sozialstaatliche Zusatzleistungen haben. 

Viele dieser Anregungen sind kurzfristig nicht durchzusetzen. Notwendig ist aber ein breiter Diskurs über eine zwingende Verbesserung der sozialen Situation der Kunstschaffenden in der Schweiz. Unsere Gesellschaft muss sich der Frage stellen, welche Lebens- und Arbeitsbedingungen sie ihren Kunstschaffenden bieten will. 

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Anmerkungen

[1] Elisa Sträuli und Tobias Bauer: Working Poor in der Schweiz, in: Info.social 5/2001, Bundesamt für Statistik (Hrsg.).

[2] Vgl.: Guntram Rehsche: Hilfsmöglichkeiten für Kunstschaffende in der Schweiz. Schlussbericht zuhanden des Bundesamtes für Kultur, Januar 1999 und 

Kratki/Läubli: Die Situation der Alters- und Invaliditätsvorsorge der Kunstschaffenden in der Schweiz.

 


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