Das Unmögliche wollen.

Zum Tod von Ruth Schweikert.

Sie hat sich nie geschont. Sie gab alles und das in jeder Situation, und wenn es sein musste: noch mehr! Nicht genug, dass sie sich schon in jungen Jahren zu einer der wichtigsten Stimmen der Schweizer Literaturszene hinaufkatapultierte – sie war noch in so vielen anderen Feldern unterwegs, war Mutter, Freundin, Mentorin, Kolumnistin, ehrbare Kulturstreiterin, so als hätte sie nicht nur ein, sondern hundert Leben. Ich erinnere mich an Abende, Diskussionen, weingetränkte, wo alle schon längst müd geworden vom vielen Debattieren, der immer noch alerten und nach dem passgenauen Wort und Argument suchenden Ruth zuhörten, mit letzter Kraft, auf beiden Seiten!

Nein, sie hat es sich nie einfach gemacht. Weder beim Schreiben noch im Leben. Die Leichtigkeit war ihr nicht in die Wiege gelegt. Sie musste alles erkämpfen, erobern, erschreiben. Und dieses Ringen um Wort, Tat und Sinn war allgegenwärtig. Ihre Bücher zeugen von ihrem Kampf um die genaue Formulierung, der tausendfach geschliffenen Wendung. Nichts, aber auch gar nichts, kommt locker auf die Seiten. Man riecht förmlich den unermüdlichen Eroberungswillen, die Unbedingtheit ihrer Versuche, das, was sie sagen wollte, in geschriebene Worte zu fassen. Und man riecht auch förmlich das Scheitern zwischen den Zeilen. Das Scheitern war ihr bekannt, war sozusagen ihr bester Freund. Und dieses war es auch, was sie von so vielen anderen Zeitgenossen in der literarischen Abteilung unterschied. Sie tat nicht schön, sie suchte nicht den einfachen Plot, das: «so ist es gewesen». Immer waren da Haken, Stolpersteine und Aufrappelungen. Ein Schreiben hart an der Grenze des Sag- und Lebbaren! Das Unmögliche wollen. Das war ihr Programm, in allem, was sie tat, was sie dachte, was sie schrieb.

Auf eine Art sind wir ja alle Scheiternde, kommen nie an in dieser Welt. Sie lebte das mit jeder Faser ihres Seins; war eine Schlitternde, sozusagen grossartig Scheiternde.

Jeder Mensch war für sie ein Strampelnder, dem Schicksal zu entkommen versuchender, gezeichneter Mensch. Egal welcher Herkunft. – Stolpersteine. Eines der vielen Projekte, die Ruth Schweikert mitanstiess. Menschen, die man im «Dritten Reich» vergaste, sollten auch in Schweizer Städten eine späte Gedenkinschrift erhalten auf einem quadratischen Stein, den man ins Trottoir einlässt.

Ihr Furor, Ihr unermüdliches Befragen der Dinge und des Seins, brachten sie notwendig zum Politischen. Sie engagierte sich für Kollegen, Kolleginnen, jüngere, ältere. Wenn sie zu jemandem fand, fand sie immer Hilfe für diese Person. Sie gründete Gruppierungen, verband sich mit anderen Schreibenden. So war es dann nur logisch, dass sie von den schreibenden Engagiertheiten zu den öffentlichen fand; Kunst und Politik, Suisseculture, wo sie fast fünf Jahre lang als Präsidentin die Schweizer Gemeinschaft der Künstlerinnen stark mitgetragen, geprägt und herausgefordert hat, der Verein Stolpersteine; ihre Anstellung als Mentorin am Bieler Literaturinstitut. Undundund. Sie engagierte sich im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Umfallen. Ihr war klar, dass es kein Leben gibt ohne die Anderen, ohne ein Zusammen, ohne rückhaltlosen Einsatz und Beharrlichkeit.

 «Zu schreiben war mir noch nie leichtgefallen. (…) Ging es um eigene, mehr oder minder selbstgewählte Stoffe, versperrte sogleich ein erratischer Block mir den Zugang zum Schreibgelände, ein diffuses Konglomerat aus Ängsten und Scham.»

So schreibt sie ihrem letzten Buch, dem persönlichsten, auch schonungslosesten, «Tage wie Hunde», in welchem sie sich mit ihrem Brustkrebs auseinandersetzte. Sie beschreibt die Unmöglichkeit, dieses Konglomerat zu überwinden, sie könne es nur eine «Zeitlang bewohnen», darauf wartend, dass es «in sich zusammenfiel». Nur auf diese Weise konnte der Weg freigemacht werden zum Schreiben.

Ja. Sie hat es sich nie leicht gemacht, sich nie geschont. Auch damit war sie eine Singularität hier in unserem doch eher behäbigen und auf Gemütlichkeit abonnierten Land.  Sie schrieb, lebte so, als müsste sie morgen sterben, als wäre Aufschub nicht möglich. Darum hundert Leben.

Jetzt ist sie gestorben, am Sonntag, dem 4. Juni, eingeschlafen nach vielen Tagen des Halbwachseins, des Halblebens. Sie sei im Einverständnis mit dem Tod von dieser Welt gegangen. Bei sich zuhause, umgeben von ihrer grossen, ihren Mann und fünf Söhne umfassenden, Familie. Wir von Suisseculture sind sehr traurig.

Omri Ziegele // Juni 2023

 

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